Preisträger:innen des Scherer-Preis    

Preisträger 2024: Jasper Schagerl

Umstände erzählen. Die Prosa des Falls bei Harsdörffer, Thomasius und Gayot de Pitaval

Die Dissertation des Preisträgers untersucht den Einfluss der Rechtskasuistik auf die Entstehung einer Poetik der Prosa zwischen 1650 und 1750. Ihre Grundthese lautet, dass das Erzählarchiv der Juristen wegweisend für die literarische Fallprosa war. Poetologische und juristische Erkenntnisinteressen konvergierten in der rhetorischen Frage danach, wie die Details eines Falls dargestellt und verkettet werden können, um Evidenz zu erzeugen. Die empirischen Wissenschaften der Frühen Neuzeit griffen diese Umstandstechnik auf und machten sie zur Grundlage eines Einzelfallwissens, das vormals wissenschaftsunfähigen Singularien und Akzidenzien eine hohe Aufmerksamkeit schenkte. Entlang dreier paradigmatischer Autoren – Georg Philipp Harsdörffer, Christian Thomasius und François Gayot de Pitaval – schreibt Jasper Schagerl eine Geschichte der Verfahren, die aus den rhetorischen circumstantiae ein Erkenntnisinstrument, eine Urteilsform und eine Technik prosaischer Formgebung machten. Die Untersuchung ergänzt damit Studien zu literarischen Fallgeschichten um eine Vorgeschichte, in der ,Fälle‘ noch nicht gleichbedeutend mit devianten oder kranken Individuen waren, sondern durch die spezifische Konstellation ihrer Umstände allererst zum Einzelfall wurden.

Preisträgerin 2022: Anna Sophie Luhn

Überdehnung des Möglichen. Dimensionen des Akrobatischen in der Literatur der europäischen Moderne

Anna Sophie Luhn untersucht in ihrer Dissertation Konzeptualisierungen des Akrobatischen in der Literatur der Moderne in ihren historischen Voraussetzungen, ästhetischen Effekten und utopischen Fluchtpunkten. Angesiedelt an der Schnittstelle von athletischer Höchstleistung und populärer Schaukunst erfahren die artistischen Künste im 19. Jahrhundert im Kontext einer schichtenübergreifenden urbanen Vergnügungskultur eine massiv gesteigerte, medial vermittelte Aufmerksamkeit. Im Zuge dessen wird das Artistentum auch den literarischen Taktgebern der Zeit zum motivischen Stichwortgeber, zur Projektionsfläche antibürgerlicher Imaginationen und gesellschaftsutopischer Gegenerzählungen. Die Preisträgerin nimmt in ihrer Studie in den Blick, wie das Akrobatische zwischen 1850 und 1925 über Nationalgrenzen, Strömungen und literarische Gattungen hinweg zum Träger einer vielgestaltigen Semantik der Überschreitung avanciert. Als Grenzgänger, der scheinbar mühelos die Schwerkraft überwindet und unter Einsatz seines Lebens über dem Abgrund balanciert, erscheint der Akrobat im 19. Jahrhundert als eine potente Figur, in der gesellschaftliche, ästhetische und politische Faktoren und Visionen der ‚langen Jahrhundertwende‘ in- und gegeneinander spielen. Noch den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts gilt die akrobatische Performance als programmatisches Symbol für ein neues Subjektverständnis im Spannungsfeld von spielerischer Leichtigkeit und tödlichem Ernst, von Disziplin und Überwältigung, von Möglichkeit und Unmöglichkeit.

Preisträgerin 2020: Dariya Manova

„Sterbende Kohle“ und „flüssiges Gold“ -  Rohstoffnarrative in der Populärliteratur und Publizistik der deutschen Zwischenkriegszeit 

Dariya Manova erschließt mit der Thematisierung von Rohstoffen in der Populärliteratur und Publizistik der Zwischenkriegszeit nicht nur ein höchst brisantes Thema, sondern geht in der geschickten Kopplung kultur- und wissenshistorischer sowie erdgeschichtlicher Aspekte innovative Wege. Für die folgenreiche Verbindung zwischen Rohstoff und Literatur im Deutschland der 20er und 30er Jahre, die die Preisträgerin in ihrer Arbeit untersucht, spielt der Ausgang des Ersten Weltkriegs eine entscheidende Rolle. Eine alternative Dolchstoßlegende entsteht, die den Mangel an einem besonderen Rohstoff in den deutschen Territorien als Ursache für die Niederlage anführt – dem Erdöl. Die Ruhrbesetzung, die Weltwirtschaftskrise sowie erste Zensurgesetze nach 1933 sorgen zusätzlich für ein öffentliches und literarisches Klima, in dem Erdöl, Kohle, Baumwolle und Kautschuk sowie ihre synthetischen Ersatzstoffe zu neuen Gegenständen und gar ,Helden‘  von wissenschaftlichen Broschüren, Feuilletons, Reiseberichten, Autobiographien, Romanen, Sachbüchern und nicht zuletzt Zukunftsromanen werden. An einem sehr heterogenen Korpus zeigt Dariya Manova, dass Rohstoffe zu Trägern kultureller Bedeutungen, chauvinistischer und exotistischer Stereotype sowie zur Bühne für politische Propaganda geworden sind. Den Schlusspunkt der Arbeit bietet eine Analyse der in den Zukunftsromanen und Sachbüchern der Zeit unternommenen Suche nach einem unerschöpflichen Rohstoff in den Chemie-Laboren und in den Köpfen der deutschen Wissenschaftler und Ingenieure. Dies markiert gleichzeitig den Übergang zu einer faschistischen Kriegsrhetorik.

Preisträgerin 2018: Annika Hildebrandt

Kriegsgemeinschaften - Literatur und Politik um 1750

Annika Hildebrandt untersucht mit ihrer Dissertation literarische und sozialtheoretische Kriegsdiskurse. Dabei gelingt es ihr, ein differenziertes Diskussionsfeld um 1750 neuerlich sichtbar zu machen und gegen die Deutungsmacht der Goethezeit zu rehabilitieren. Die Schlesischen Kriege (1740–1763) gelten als wichtiger Impuls für die kulturgeschichtliche Dynamisierung im 18. Jahrhundert. Ihre Relevanz für die Literaturgeschichte ist jedoch seit dem 20. Jahrhundert aus dem Blick geraten. Annika Hildebrandt profiliert die konfliktreichen Jahrzehnte um 1750 zum ersten Mal als einen Zeitraum, der literarische und politische Konkurrenzen forcierte und auf die Prägung eines modernen Literaturbegriffs um 1800 entscheidenden Einfluss nahm. Den Kristallisationspunkt der Untersuchung bildet die parallele Entwicklung von Lyrik und Patriotismus, die in innovativen Kriegslied-Poetiken zusammenlief. Die Preisträgerin ordnet dieses Phänomen in ein Spannungsfeld von Dichtungs- und Gesellschaftstheorien ein und geht damit der neuen, diskursübergreifenden Faszinationskraft des Krieges in der Jahrhundertmitte auf den Grund. Eine zentrale These lautet, dass der Krieg den Dichtern und Philosophen um 1750 als Zugang zu grundlegenden Affekten galt, die versprachen, die soziale Differenzierung traditioneller Ordnungen aufzubrechen.

Preisträgerin 2016: Anna Lena Scholz

Kleist/Kafka - Diskursgeschichte einer Konstellation

Seit den 50er Jahren gilt es als ausgemacht das Heinrich von Kleist und Franz Kafka eine genuin literarische Verwandtschaft prägt. Anna Lena Scholz wählt die beiden Autoren für ihre Dissertation jedoch nicht im Blick auf deren jeweiliges Werk, sondern als Referenz für ihre Untersuchung über theoretische Diskurse des 20. Jahrhunderts, die gerade einen literaturhistorischen Mythos um die Verwandtschaft der beiden Autoren etablierten. Mit einem Parcours durch die germanistische Intellektualität- und Theoriegeschichte des 20. Jahrhunderts zeichnet die Preisträgerin mit ihrer Dissertation die Transformation literarischer Texte nach, analysiert die germanistischen Kanonisierungsprozesse Kleists und Kafkas und zeigt, wie die Autoren für ästhetische und politische Debatten instrumentalisiert wurden.

Preisträger 2014:  Burkhardt Wolf

Fortuna di mare - Literatur und Seefahrt

Fortuna di mare bezeichnete seit der italienischen Renaissance neben der antiken Glücksgöttin auch das versicherungstechnische Problem der See-Gefahren. Von dieser Figur ausgehend, widmet sich die Arbeit dem Meer und der Seefahrt einerseits begriffsgeschichtlich und metaphorologisch, etwa mit Blick auf das ‚Staatsschiff’ und den ‚Kapitän’, auf geopolitische Einteilungen wie die zwischen ‚Land und Meer’. Die Arbeit analysiert ferner terminologische Unterscheidungen wie ‚Gefahr und Risiko’ oder die kulturpolitische Vorstellung vom Meer als einem Archiv fürs ‚kulturelle Erbe der Menschheit’. Andererseits arbeitet sie – von antiken Zeugnissen bis hin zu modernen Texten – die enge Verknüpfung zwischen abendländischer Literatur und Seefahrt auf. Das untersuchte Feld reicht dabei von alten Segelhandbüchern über kultische, religiöse und kosmographische Deutungen maritimer ‚Erfahrungen’ bis hin zur Geopolitik des frühen 20. Jahrhunderts. Der Schiffbau, die spätmittelalterliche Geburt der Versicherung oder die experimentelle Entwicklung neuzeitlicher Navigation werden hier in ihren technik-, wirtschafts- und literaturhistorischen Überlagerungen thematisiert, wie die Studie überhaupt das Schiff und die Seefahrt als anthropologisches, soziales und politisches Experimentierlabor begreift. 

Preisträgerin 2012: Charlotte Kurbjuhn

Kontur – Geschichte einer ästhetischen Denkfigur

Charlotte Kurbjuhn ist es gelungen mit ihrer Dissertation dem Begriff des Kontur seinen kunsttheoretischen Bedeutungsgehalt zurückzuerstatten. Den ästhetischen Kategorien „Umriss“ und „Kontur“ kommt innerhalb ästhetischer und erkenntnistheoretischer Diskussionen verschiedenster Epochen zentrale Bedeutung zu. Besonders an Epochenschwellen werden Reflexionen über die erkenntnistheoretischen und produktions- wie wirkungsästhetischen Implikationen von Umrissphänomenen als Medium kunsttheoretischer Abgrenzung ausgestaltet. Anhand der Problemgeschichte dieser Kategorien ergeben sich Diagramme einer Geschichte ästhetischen Denkens in seinen Konstanten, Brüchen und Modifikationsmechanismen. Die Dissertation zeichnet die Geschichte der ästhetischen Denkfigur „Kontur“ in signifikanten Stationen nach, von der antiken Wahrnehmungstheorie und Überlieferungen zur Entstehung der Kunst über die Kunsttheorie der italienischen Renaissance und des französischen Klassizismus hin zum Hauptteil der Studie, deren Schwerpunkt die Entwicklung der deutschsprachigen Kunstliteratur bildet: von den Anfängen bei Rivius und Sandrart über Winckelmann und die Kunsttheorie von Klassik, Frühromantik und Realismus bis zu Rilkes Rodin-Studien.

Preisträger 2010: Thomas Wegmann

Dichtung und Warenzeichen: Reklame im literarischen Feld 1850-2000

Die ausgezeichnete Habilitationsschrift hat eine innovative Fragestellung nach Dichtung und Warenzeichen in der modernen Literatur zum Ausgangspunkt. Die Arbeit untersucht systematisch das Spannungsverhältnis von Literatur und Reklame für einen Zeitraum von rund 150 Jahren. Ihr gelingt es, an ganz unterschiedlichen Textgattungen den Prozess der modernen Autorinszenierung auf eine neue Weise aufzuzeigen und unbekannte Beziehungen zwischen Warenzeichen und Dichtung zu belegen.